Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (2024)

Egal ob im Gewand eines Jugendcomics, Serial Fiction, literarischer Dekonstruktion oder p*rnografie: Die Drei Musketiere von Alexandre Dumas haben schon in vielen Erscheinungsformen den Weg in den Comic gefunden. Im folgenden Aufsatz sollen die interessantesten Adaptionen vorgestellt werden, mit dabei unter anderem die Künstler und Szenaristen Helmut Nickel, Roy Thomas, Hugo Petrus, Nicolas Juncker, Mancini, Jean-David Morvan, Rubén, Dufranne, Malcolm Kildale, George Evans, Brice Goepfert, Patrick Cothias und Jean-Michel Charlier.

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Die Musketiere wurden über die Jahrzehnte hinweg immer wieder neu interpretiert.

Seit ich als kleiner Junge, wie so viele Kinder, die amerikanische Filmversion von 1948 im Sonntagnachmittags-TV sehen durfte, haftet der Musketier-Thematik in meinen Augen etwas leicht Kindisches an, die eindrucksvolle Kostümierung beflügelt die kindliche Vorstellungswelt schon sehr. Aber auch Dumas‘ Roman (1844) vermittelt gerade am Anfang zunächst einen Eindruck, als ob das ständige Kämpfen und Duellieren dieser kostümierten Soldaten – der Roman spielt um 1625 – etwas Romantisches und Vergnügliches sei. Mit zunehmender Dauer der Lektüre durchschaut man jedoch, dass die Musketiere weniger strahlende Helden als vielmehr umtriebige, zweifelhafte Chaoten sind, die im Zweifelsfall eher raufen als denken.

Wie soll man es auch sonst verstehen, dass sich diese Figuren mittags noch gegenseitig umbringen wollen, um 15 Uhr aber, nachdem sie die Soldaten des Kardinals besiegt und gedemütigt haben, einander als beste Kumpels in den Armen liegen? Das Gesetz gegen Duelle hatte durchaus seine Berechtigung – den Musketieren ist das egal. Auch der verschwörerische Lord Buckingham erweist sich keineswegs als Sympathieträger, wo er doch eher einen Krieg vom Zaun brechen würde, als von seiner Verehrung gegenüber der Königin Anna von Österreich, Königin von Frankreich, abzusehen. Und die Tragödie, die hinter dem Schicksal der heimtückischen Spionin Lady Winter steckt, wird ebenfalls erst bei genauerer Lektüre bewusst. Die junge Frau ist erst 16, als sie mit dem Schandmal der Lilie gebrandmarkt wird, da sie einen jungen Mönch zum Diebstahl angestiftet hat. Aus diesem Grund war sie bereits ‚unehrlich‘, als sie aus Eigennutz den ehelichen Bund mit dem jungen Athos, damals noch Graf, einging. Als dieser – und das ist immer noch Vorgeschichte der eigentlichen Romanhandlung – durch Zufall von der Vergangenheit seiner Frau erfährt, ist die Strafe fürchterlich. Sie soll einer der zentralen Aspekte sein, wenn ich im Folgenden diverse Comic-Adaptionen der Drei Musketiere untersuche.

Es ist eine finstere Geschichte, die der spätere Athos des Romans im Suff an seinen Kumpel d’Artagnan weitergibt, während er dabei ohne Erfolg vortäuscht, er würde von den Erlebnissen eines ‚Bekannten‘ erzählen: „Der Graf“, so Athos, der natürlich über sich selbst spricht, „war ein hoher Herr, er hatte auf seinen Gütern die hohe und niedere Gerichtsbarkeit. Er zerriß die Kleider der Gräfin vollends, band ihr die Hände auf den Rücken und knüpfte sie an einem Baum auf.“ Dass solches Handeln auch den Figuren dieser Zeit und trotz rechtschaffener Gerichtsbarkeit nicht alltäglich oder normal erscheint, beweist die Reaktion von d’Artagnan: „‚Himmel Athos, ein Mord!‘ rief d’Artagnan, ‚Ja, ein Mord, nicht mehr‘, sprach Athos bleich wie der Tod. ‚Aber es scheint, es fehlt uns an Wein.'“

Zu dem Zeitpunkt, als Athos dieses düsterste Kapitel seines Lebens beichtet, ist noch nicht klar, dass die Hingerichtete den provisorischen Galgen überlebt hat und im späteren Verlauf der Handlung als Milady Winter in Erscheinung tritt, die als Spionin im Dienste des Kardinals Richelieu steht. Dies erfährt der Leser erst später durch einige böse Streiche, die d’Artagnan der Lady spielt, als er einen Brief abfängt und sich daraufhin als ihr Liebhaber ausgibt. Unter den Musketieren wird mit derlei Frauengeschichten geprahlt, Treue gegenüber dem weiblichen Geschlecht gilt als vernachlässigbar. Gerade vorbildlich verhalten sich diese Musketiere also gerade nicht, sie werden aber auch nicht so dargestellt.

Helmut Nickel 1954 – Die Musketiere als Serial

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Helmut Nickels Musketiere

Helmut Nickel hatte stets den Ruf, besonders akkurat und historisch korrekt in seinen Comics zu sein. Schon in seinem Comic-Debüt erkennt man den engagierten Kunstgeschichtler, der später im Walter Lehning-Verlag mit Winnetou das „erste Magazin für Indianerkunde“ gestalten sollte, bevor er Mitte der 1960er Jahre der deutschen Comicszene den Rücken kehrte und fortan im New Yorker Metropolitan Museum die Waffensammlung kuratierte.

Die Panels in Nickels Musketier-Comics bersten teilweise vor Erklärtexten, dennoch gelingt dem Künstler mehr, als nur die Kulissen, Waffen, Rüstungen und Kostüme der Epoche eindrucksvoll nachzustellen. Schon die ersten Seiten zeigen ein eindrucksvolles Gespür für Situationskomik und Timing, wenn Guy d’Artagnan auf dem Weg zum Königshof von einem Tumult in den nächsten stürzt. Bei seiner ersten Rauferei mit einer Gruppe Wirtshausbesucher, die ihn verspotten, läuft die halbe Stadt zusammen, Glocken werden geläutet und ein Horn geblasen, so dass auch jeder mitbekommt, was los ist. Nickel dehnt diese Sequenz mit viel Vergnügen über viele Seiten aus und bewegt sich dabei im Rhythmus von Stummfilmen. Spätere Hefte erzählen dann jedoch eher im Duktus alter Action-Serials wie Flash Gordon oder Zorro, dem ganzen hinreißenden Action-Kram, den wir in der BRD unter anderem in Form der Western von Gestern kennenlernen durften.

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Wie im Stummfilm: Gestik und pralle Bilder, dass man gar keinen Ton mehr benötigt, um sich den Lärm vorstellen zu können (©Gerstmayer).

Die Vielschichtigkeit der Vorlage wird dabei nicht erreicht, dennoch bleibt Nickel den Motiven der Romanvorlage erstaunlich treu. Zu jeder sich bietenden Gelegenheit reichert er die Abenteuer fantasievoll an, beispielsweise wenn Guy d’Artagnan einem türkischen Bettler eine besondere Pistole abkauft, mit der man nie einen Schuss verfehlt, vorausgesetzt, man hat sie mit den letzten Dukaten erworben, die man noch in seiner Tasche hat. Nickel nutzt geschickt das Serienformat, um die Erzählung auszuschmücken und bietet dabei reichlich Cliffhanger, Suspense und Action. Dabei kürzt er die Figur der Madame Bonacieux, Schneiderin der Königin, in die sich d’Artagnan verliebt, komplett aus der Handlung und lässt deren Part Kitty zufließen, die eigentlich die Zofe der Lady Winter ist.

Die Ambivalenz der Story freilich wird glattgebügelt. Der in die Königin Anna vernarrte Lord Buckingham wird hier nicht allein von einer Vertrauten der Königin in deren Palast geführt, sondern erhält handfeste Hilfe von d’Artagnan, der ihm den Weg freikämpft. Statt Politik und Verrat sind hier aufregende Verfolgungsjagden und Fechtereien tonangebend, das aber auf eine Art und Weise in Szene gesetzt, die dem gewählten Format entspricht und Nickel in höchster Erzählfreude zeigt.

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Guy d’Artagnan mit seinen türkischen Pistolen, verwegene Abenteuer in der Nacht. Helmut Nickel bietet seinen Lesern weit mehr als nur eine Nacherzählung.

Immer wieder bekommt Nickel trotz seiner zahlreichen Action-Einlagen die Kurve zum Roman. D’Artagnans Reise nach England, um die Diamantspangen der Königin zurückzuholen, ist mitreißend erzählt, aber auch Nickels Nacherzählung der Belagerung der Festung La Rochelle gehört zu den Glanzlichtern der Reihe. Kostüme, Waffen, Action: Helmut Nickel kann hier wirklich zeigen, was er drauf hat, und hebt sich damit positiv von dem ab, was aus den USA unter dem Umbrella-Titel Illustrierte Klassiker herüberschwappte. Man kann Nickel gern auf Augenhöhe mit Harold „Hal“ Foster sehen.

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Die Schlacht um die Festung La Rochelle hat kein Künstler so anschaulich illustriert wie Nickel.

Leider verliert sich die Geschichte danach etwas in den Freiheiten, die Nickel sich herausnahm. Lady Winter wird zeitweise doch sehr zur austauschbaren Comicschurkin degradiert, als sie den Franzosen die Kriegskasse klaut und sich nach Venedig absetzt. Das wäre noch verzeihlich, wenn die Musketiere nicht anschließend noch von maurischen Piraten angegriffen würden. Zwar können Athos, Porthos und Aramis die Kriegskasse retten und nach Frankreich zurückbringen, doch das wird nur am Rande erwähnt, während Helmut Nickel seine Leserinnen und Leser nun für einige Hefte nach Afrika entführt, wo d’Artagnan, sein Diener Planchett und die Zofe Kitty, die sich längst als d’Artagnans Sidekick entpuppt hat, Abenteuer erleben, die so gar nichts mit Dumas‘ Vorlage zu tun haben. Die Kids der 1950er Jahre wird es nicht gestört haben, dennoch passen solche Epsioden besser zu den Robinson-Heften, die Nickel ja bald darauf ebenfalls zeichnen sollte.

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Kitty in Fechtmontur. Leider darf sie nur vorübergehend Heldin sein.

Und doch: Am Ende dieses kleinen Abstechers in exotische Gefilde steuert Helmut Nickel wieder zurück zur eigentlichen Geschichte. Bedauerlicherweise hat das zur Folge, dass Kitty nicht mehr die gleichwertige Kämpferin an d’Artagnans Seite ist, was sie über viele Hefte hinweg in völliger Missachtung der Vorlage war, stattdessen wird sie in die passive Rolle der Constance Bonacieux gedrängt, damit Dumas‘ Plot sich erfüllen kann. Kitty fällt ebenso wie der Herzog von Buckingham einem Giftanschlag von Milady zum Opfer. Aufgrund dieser schändlichen Handlungen wird Milady von den Musketieren in Begleitung eines geheimnisvollen Henkers – des „Henkers von Lille“ – gejagt.

Das Ende ist so festgeschrieben und unabänderlich, als handle es sich um die Kreuzigung höchstselbst: Milady wird in dunkler Nacht in einer rechtlich fragwürdigen Verhandlung der Prozess gemacht, dann wird sie vom Henker, der selbst eines ihrer ersten Opfer war, enthauptet. Das Bild des Henkers gehört zu jeder echten Version der Drei Musketiere unverrückbar dazu und ist auch in den Filmversionen von 1948 und 1973 eines der eindringlichsten Bilder.

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Die Vergehen der Milady Winter.

Dabei hat Helmut Nickel der Milady ein paar Untaten mehr angedichtet, während Athos‘ düstere Vorgeschichte weit weniger brutal gezeichnet wird: Dieser verlässt, nachdem er vonMiladys Schande und ihrer Bosheit erfahren hat, seinen Hof und wird Musketier – das ist schon fast empörend passiv für jemanden, der im Original sehr schnell zu extremen Mitteln greift.

Nichtsdestotrotz gelingt es Nickel meisterhaft, die unheimliche Atmosphäre der letzten Verhandlung über Milady in den Comic zu übertragen und die Verbitterung aller herauszuarbeiten. Selbst Milady bekommt ihren letzten Moment menschlicher Größe, als sie ihre Verzweiflung abschüttelt und sich stolz und arrogant ihrem Schicksal fügt. Allein ihrer Hinrichtung sind drei Panels gewidmet, der Verhandlung immerhin 13 Bildstreifen; so viel episches und atmosphärisches Erzählen ohne Action war in den 1950er Jahren alles andere als üblich. Es stellt zweifellos einen Höhepunkt in Helmut Nickels gar nicht so kleinen Gesamtoeuvre dar.

Dennoch bleibt bei Nickel letztlich der Eindruck, mit dem Ende Milady Winters wäre der Gerechtigkeit Genüge getan. Die Essenz von Dumas‘ Romanvorlage jedoch sehe ich vielmehr in der bitteren Erkenntnis, dass einer Betrügerin nach ihrer Ächtung durch die Gesellschaft gar keine andere Möglichkeit blieb, als ein Leben als Verbrecherin zu führen. Ich halte Milady Winter tatsächlich für die heimliche Hauptfigur der Erzählung. Die Vielzahl an Nebenplots, in der Milady eine tragende Rolle spielt, verleihen ihr tatsächlich bisweilen Züge einer frühen Antiheldin. Die Episode, in der sie einen puritanischen Soldaten zur Ermordung Lord Buckinghams veranlasst, ist nachgerade ein diabolisches Meisterstück. Manchmal wundert es mich, dass es bisher keine feministische Nacherzählung des Romans gibt.

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Nicolas Juncker vs. Jean-Michel Charlier – Wer kann den besseren Dumas?

Einer der wichtigen Wendepunkte in Dumas‘ Erzählung ist, als d’Artagnan durch Zufall das Geheimnis der Milady Winter lüftet. Von dem Moment an, als er ihr mit einem glühenden Eisen eingebranntes Schandmal der Lilie entdeckt, ist er seines Lebens nicht mehr sicher, und Milady macht ihren ganzen Einfluss geltend, d’Artagnan zum Opfer eines Attentats werden zu lassen. D’Artagnan weckt, als er Milady enttarnt, einen schlafenden Riesen, der sich zu schützen weiß.

Bald darauf ist d’Artagnan mit seinem Regiment Teil der Belagerung der Festung La Rochelle, die von Milady gedungenen Mörder jedoch verstecken sich ebenfalls unter den Soldaten. Als d’Artagnan mit zwei augewählten Soldaten auf eine gefährliche Kundschaftertour geht, schlägt die Stunde der Killer. Deren Kalkül ist es, d’Artagnans Tod dem Feind in die Schuhe zu schieben, denn dort, wo ihre Mission sie hinführt, gibt es keine Zeugen. Aber d’Artagnan weiß sich zu wehren und besiegt seine Feinde. Da er einen Angreifer verschont, verspricht ihm dieser ewige Dankbarkeit und Freundschaft, aber kaum sind die beiden zurück im Lager, droht schon der nächste Anschlag. Eine Kiste Wein, angeblich von seinen Freunden geschickt, soll ihm Freude bereiten, aber natürlich ist es in Wahrheit keine Lieferung der Musketiere, sonderm vergifteter Wein von Milady. Nun schlägt die Stunde des Bauernopfers: Der soeben noch von d’Artagnan Verschonte nimmt den ersten Schluck und stirbt einen jämmerlichen Gifttod.

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Milady Pearl (Leutnant Blueberry – Chihuahua Pearl, ©Egmont)

Solche Handlungsvolten kennt man sonst eher vom klassischen Spannungscomic. In meinem Aufsatz Totentanz über den französischen Szenaristen Jean-Michel Charlier habe ich bereits ausführlich dargelegt, wie dessen Plots oft einer makabren Ordnung folgen, und Nebenfiguren überleben häufig gerade so lange, wie sie auch eine Funktion in der Erzählung zu erfüllen haben. Dumas arbeitet in der Episode um den hinterhältigen Anschlag nach einem ähnlichen Prinzip: Der geläuterte Feind befindet sich allein deswegen noch in d’Artagnans Nähe, um als Kugelfang zu dienen, was wiederum eine emotionale Reaktion und den Fortlauf der weiteren Handlung motiviert. Die Konstruiertheit des Plots wird deutlich.

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Milady X (Buck Danny gegen Lady X, © Salleck)

Jean-Michel Charlier bediente sich in seinen Abenteuercomics der 1940er bis 1980er Jahre einer Vielzahl von Motiven, derer sich bereits Dumas bedient hatte: Der gelangweilte Soldat, der sich in Friedenszeiten duelliert (oder ähnliches), da er nichts mit sich anzufangen weiß und sich nur so seines Status versichern kann, ist bei Charlier ein ebenso wiederkehrender Typus wie die verschwörerische Frau, die außerhalb der Gesellschaft steht und über Intrigen ihren Lebensunterhalt sichert.

Egal ob Chihuahua Pearl, die Piratenbraut Concha oder die Spionin Lady X: Viele Frauen aus Jean-Michel Charliers Geschichten sind nur leicht abgeänderte Varianten von Milady Winter. Zieht man noch dazu in Betracht, dass die Musketiere es mit der Treue nicht so genau nehmen und im Lauf der Story Allianzen und Fronten wechseln, komplettiert sich das Bild. Es sei nur daran erinnert, dass d’Artagnan zum Ende des Romans auf die Seite des Kardinals wechselt und seinem Feind Rochefort die Hand reicht – bzw. reichen muss. Das erinnert an den Roten Korsar, der zunächst gegen, später für Frankreich segelt – oder an Leutnant Blueberry, der zunächst von den Süd- zu den Nordstaatlern wechselt und später von den amerikanischen Soldaten zu den Indianern. Es ist offensichtlich, dass die Nähe Charliers zu Dumas keine bloße Behauptung ist. Sogar die Produktionsbedingungen der Geschichten sind verwandt, denn beide Autoren haben erst in Fortsetzungen geschrieben. Erst später wurden die Geschichten als Sammlungen veröffentlicht.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (12)Spannend wird es, wenn man sich überlegt, wie fundamental die Unterschiede von Charliers Comics zu Nicolas Junckers Adaption der Drei Musketiere (deutsche Ausgabe bei Carlsen) sind. Junckers Version unterscheidet sich in nahezu jeglicher Hinsicht von den Künstlern, mit denen Charlier zusammengearbeitet hat. Seine Zeichnungen sind abstrakt und streng stilisierend, egal ob es sich um Figuren oder Landschaften handelt, und er hat seine Erzählung präzise durchkomponiert, wo Charlier und auch Helmut Nickel viel stärker dem Gesetz der fortlaufenden Serie folgen. Dennoch ist er kurioserweise nicht unbedingt näher an Dumas. Junckers liefert uns viel eher schon eine Interpretation als eine reine Adaption und arbeitet deutlich hervor, was bei Dumas eher als Subtext angelegt ist: Die Rüpelhaftigkeit und Selbstgefälligkeit der Musketiere und die Doppelmoral gegenüber der gefallenen Milady.

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Vielleicht waren die Musketiere ja ganz anders (Nicolas Juncker, © Carlsen).

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Und Milady Winter: Vielleicht war ja tatsächlich alles ganz anders (Nicolas Juncker, ©Carlsen).

Juncker hat sich von der allwissenden Erzählperspektive der klassischen Abenteuerschreiber völlig verabschiedet und erzählt streng aus der subjektiven Perspektive d’Artagnans. So unterläuft er das Blendende der galanten Oberfläche und zieht uns direkt in die innere Wahrnehmung des ehrgeizigen und sich selbst überschätzenden Casgogners. D’Artagnan ist gleichzeitig hochtrabend und voller Selbstzweifel, impulsiv und verschlagen, und irgendwie hasst er sich auch dafür, dass er nie das ritterliche Ideal erreicht, das ihm eigentlich vorschwebt.

Die Darstellung des Innenlebens geht auf Kosten der Suspense, die gerade Dumas und Charlier meisterhaft in Szene setzen konnten, aber Juncker ist ein Künstler einer Generation, die auf solche Oberflächenreize keine Gedanken verschwendet. Juncker erarbeitet sich dagegen eine progressivere Haltung gegenüber der Erzählung und stellt das Verhalten der Musketiere als so einfach gestrickt, übersteigert männlich und bisweilen schäbig hin, wie es unter der Oberfläche tatsächlich ist. Das Paradoxe dabei jedoch ist: Je psychologischer Juncker erzählt, desto mehr entzieht er der Geschichte das Geheimnis. Der doppelte Boden ist weg, wenn Juncker uns direkt unter die Oberfläche blicken lässt.

Warum hätte Nicolas Juncker auch eine weitere Version der Drei Musketiere zeichnen sollen? Bloße Adaptionen gibt es bereits mehr als genug, und gerade in Comicform läuft die Erzählung stets Gefahr, doch wieder eine Verherrlichung des soldatischen Machismo zu werden, wenn man nicht gezielt dagegen arbeitet. De facto transformiert Juncker die Erzählung in ein neues Genre. Obwohl er sich weitgehend an die Vorgaben des Originalplots hält, entfernt er sich denkbar weit vom Stil Alexandre Dumas‘. Charlier ist in seinen Mantel- und Degengeschichten, seinen Western und selbst seinen Fliegercomics näher an Dumas‘ Haltung und Tradition. Dennoch nimmt Junckers Adaption in ihrer Eigenständigkeit eine Ausnahmestellung ein.

Die akkuraten Adaptionen von Morvan und Roy Thomas

Jean-David Morvan und Michel Dufranne haben von 2007 bis 2010 für Delcourt eine werkgetreue Adaption geschrieben, die von Rubén in äußerst dynamische Bilder und Szenen im modernen frankobelgischen Funny-Stil umgesetzt wurde. Die Adaption ist bis in die kleinste Nebenszene hinein akribisch; Straffen und Verdichten war für die Autoren defnitiv nicht das Anliegen, so dass ein spektakulärer Semi-Funny dabei herauskam, der auch vor den düsteren Aspekten der Erzählung und den vielen Nebensträngen nicht zurückschreckt.

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Milady Winter trifft ihren größten Feind (Morvan, Dufranne, Rubén, ©Delcourt).

Rubéns Stil ist extrem dynamisch: Abenteuerliche Wechsel der Panelgrößen, extreme Perspektiven und Speedlines lassen die Geschichte selten zur Ruhe kommen, und die Figuren agieren in nahezu jedem Panel mit exaltierten Gesten und überzogener Mimik. Das passt durchaus zu dem, was in Kindlers Literaturlexikon steht, wonach die Musketiere weniger als realistische Figuren denn als Typen angelegt sind: Aramis, der Geistliche, der durch ein galantes Abenteuer vom Weg abkam; Athos, der Ritter, der seine gescheiterte Ehe durch den Militärdienst aufarbeitet; Porthos, der hünenhafte, aber naive Held, dem keine Prahlerei zu peinlich ist. So überzeichneten Figuren wird man am besten Herr, wenn man im Bild ebenfalls die Darstellung zuspitzt. Aufgrund der kompromisslosen Vollständigkeit verlangt die Adaption von Morvan, Dufranne und Rubén dem Leser einiges an Aufmerksamkeit ab und überrumpelt in ihrer Bilderflut. 196 Seiten Musketiere im Funny-Stil sind eine echte Ansage.

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Milady Winters Ende (Morvan, Dufranne, Ruben, ©Delcourt).

Der Kontrast zur amerikanischen Adaption durch Roy Thomas und Hugo Petrus, die 2008 für Marvel Comics entstand, könnte nicht größer sein, denn dieses Autorenduo schlägt eine gänzlich andere Tonart an, und deren realistische Darstellung ist im Gegensatz zur Delcourt-Version gar nicht schrill. Thomas und Petrus gelingt es duchaus, dem Material einige neue Motive abzugewinnen, am deutlichsten vielleicht in der Szene, in der die Musketiere sich mit d’Artagnan zum Duell treffen und sich stattdessen gegen die Soldaten des Kardinals wehren müssen: Diese Fechterei wird in nahezu allen Versionen in einem heiter-derbem Stil erzählt, außer bei Nicolas Juncker, dessen Zielsetzung es aber von vorneherein war, die Musketiere zu dekonstruieren. Roy Thomas und Petrus dagegen dekonstruieren nicht, sie verleihen dem tödlichen Geschehen aber eine angemessene Portion an Gravität. Trotz des Realismus bleiben die Musketiere bei Thomas und Petrus aber letztlich konturlos. Vor allem d’Artagnan fehlt das Wieselhafte.

Obwohl der Marvel-Sechsteiler gründlich die wichtigen Stationen der literarischen Vorlage abarbeitet, ereicht er doch nie die Spannung der Delcourt-Version. Es handelt sich eben doch eher um einen weiteren Illustrierten Klassiker, wenn auch im modernen Gewand. Die klassischen Classics Illustrated (keine Tautologie) wollten ja seit jeher gar nicht erst den Anschein erwecken, Unterhaltungscomics zu sein, sondern waren eher illustrierte Plot-Summaries. Die Roy-Thomas-Variante hingegen ist unentschlossen. Während viele Passagen mit dem Willen zur Suspense weit ausgebreitet werden, werden andere Handlungsstränge recht brüsk in eine kleine Textbox gepfercht und aus dem Off schnell abgehandelt. Insgesamt eine achtbare Arbeit, die durch ihren realistischen Ansatz den Reigen der Adaptionen um eine weitere Perspektive bereichert.

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Der realistische Stil von Hugo Petrus verleiht manchen Szenen eine angemessene Erdschwere (©Marvel).

Nichts für Kinder: Musketiere bei Mancini und Patrick Cothias – und noch mal Nicolas Juncker

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p*rnografie oder literarischer Kommentar? Mancinis Musketiere (©Comics für Erwachsene)

Ausschließlich an ‚Erwachsene‘ richtet sich Mancinis Version der Drei Musketiere, und das Cover lässt tatsächlich auf eine kritische Lesart des Materials hoffen. Vier angezogene Musketiere und ein Henker richten über die nackte Milady Winter – deutlicher als Mancini kann man die Machtverhältnisse nicht herausstellen. Im Comic selbst legt Mancini jedoch nur wenig Wert auf eine durchgehende geschweige denn kritische Erzählung und begnügt sich mit einigen launigen Episoden. Mal bumst d’Artagnan mit einer Bäuerin, mal geht er mit Porthos, der Frohnatur unter den Musketieren, in den Puff. An anderer Stelle treibt es d’Artagnans Diener Planchett mit einem Diener Richelieus, um an Informationen zu kommen, dann ist man wieder bei d’Artagnan, der die Schergen des Kardinals verjagt, als diese Madame Bonacieux vergewaltigen wollen. Ihrem Retter hingegen gibt sich Madame nur allzu gerne hin, da ihr Mann ein ‚Schlappschwanz‘ sei. Die Darstellungen sind stets explizit, die Penisse riesig und prall und die Frauen stets üppig. Insgesamt also eine Menge verschenktes Potenzial – wenn auch souverän gezeichnet.

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Auch Patrick Cothias weiß dem Musketier-Stoff noch neue Facetten abzugewinnen. Sein neunteiliger Zyklus Des Königs Narr handelt von einem unehelichen Sohn des Königs Ludwig XIII, den dieser gemeinsam mit einer jungen Adeligen namens Ariane von Troil zeugte. Dieses Kind wird von Geburt an von Agenten des Kardinals Richelieu beobachtet, da es ja als potenzieller Thronfolger oder für eine Erpressung instrumentalisiert werden könnte. Je nach politischer Großwetterlage haben zeitweise die Kräfte die Oberhand, die den jungen Mann beschützen wollen, zu anderen Zeiten diejenigen, die ihn beseitigen möchten. Nur der junge Jean-Baptist Poqelin, um den es geht, ist nicht im Bilde und durchdringt nur ganz allmählich die Fassade, die um seine Existenz herum errichtet wird – er ist „des Königs Narr“.

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Die Musketiere geben vom Pferd herab bisweilen recht zynische Sprüche und wirken zwielichtig. D’Artagnan (viertes Panel) entspricht bei Goepfert überhaupt nicht mehr dem Idealbild, wie wir es beispielsweise vom Film mit Gene Kelly (1948) her kennen (Des Königs Narr 8, ©Kult Editionen).

Auf Seiten der Beschützer des „Narren“ finden sich zeitweise auch die Musketiere Porthos, Aramis, Athos und d’Artagnan, die von Cothias sehr treffend als gefürchtete Elitesoldaten dargestellt werden. Einzig d’Artagnan wird von Cothias eine größere Rolle zugewiesen, denn ganz offensichtlich wird er als wichtige Figur für die Nachfolgeserie Der Mann in der Eisernen Maske benötigt, in der das Schicksal des Jean-Baptist Poquelin weitergesponnen wird. Ähnlich wie Alan Moore in From Hell verwebt Cothias literarische Vorlagen und historische Fakten zu einer alternativen Geschichtsschreibung; dabei schreckt er auch nicht davor zurück, die Erzählung um den Mann mit der eisernen Maske (ebenfalls ein Dumas-Werk) neu zu variieren.

„Es gibt kaum einen des Ansehens werten Franzosen, der nicht seinen Mann im Zweikampf getötet hat“, so schreibt in einer historischen Quelle ein Gesandter Englands über die Situation am Hofe Ludwig XIII. Obwohl Kardinal Richelieu sehr entschieden die Praxis des Duellierens bekämpfte und gravierende Strafen darauf verhängt werden konnten, war das Duellieren tägliche Praxis – die Respektlosigkeit der Musketiere zeigt sich bei Dumas auch in der völligen Missachtung der Duellgesetzgebung, was in Soldatenkreisen dieser Zeit aber lange noch Usus war.

In Des Königs Narr gelingt Cothias und Goepfert eine bemerkenswerte Duellszene: Als der Kardinal von seinen Beratern überzeugt wird, dass die Beschattung des Narren zu kostspielig wird, bekommen die Agenten grünes Licht, diesen zu beseitigen, solange es wie ein Unfall aussieht und kein Mord ist. Ergo fordert der Marquis de Cinq-Mars, einer der Verschwörer und ein gewiefter Fechter, den Narren zum Duell. „Hab keine Angst“, spricht dessen Freundin ihm zu, „Duelle enden selten tödlich, auch wenn die Feinde dieses edlen Sports es behaupten.“

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Mord, getarnt als Duell (Des Königs Narr 3, ©Kult Editionen).

Aber genau hier liegt die Falle: Unter dem Deckmantel des Duells kann man unter rechtlicher Pseudolegitimation missliebige Menschen töten, ohne dass es als Mord bewertet wird, zumal der Ermordete unter dem Irrglauben, es ginge um seine Ehre, dies sehenden Auges geschehen lässt. Das Duellverbot ist selbstredend eine wichtige Errungenschaft und der verschlagene Kardinal in dieser Hinsicht ein wichtiger Wegbereiter der Zivilisierung. Es gelingt Cothias in Des Königs Narr, die Etikette unter Soldaten glaubwürdig darzustellen, denn die Ehre zählte zu jener Zeit mehr als das Leben.

Wie anders dagegen wirkt die Darstellung bei Nicolas Juncker, der in der zentralen Duellszene seiner Adaption vor allem d’Artagnans Schock gegenüber der tödlichen Kosequenz solcher Duelle Raum gibt. Es stellt sich schon die Frage, ob Juncker sich hier nicht schon allzusehr an modernen Befindlichkeiten orientiert.

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Duellszene bei Juncker. Das idealisierte Bild des edlen Duells wird demontiert (©Carlsen).

Aber auch die Geschichte um das Schicksal Milady Winters erzählt Juncker aus einer unverkennbar modernen Perspektive heraus. Als Milady der Prozess gemacht wird, bekennt sie sich eines einzigen Verbrechens schuldig: des Giftanschlags an Madame Bonacieux, den sie begangen hatte, um Rache für die Kränkung durch d’Artagnan zu üben. Alle anderen ihrer Verbrechen sind in ihren Augen Kriegshandlungen, Handlungen der Selbstverteidigung oder Handlungen aus Liebe – und als Junckers Leser folgt man dieser Argumentation gern, identifiziert sich mit Milady und erschaudert, als der Klub der Männer ihr am Ende den Prozess macht. Aber es gibt eine andere Perspektive. Diese lässt sich besser verstehen, wenn man sich die weitreichenden Konsequenzen von Miladys Ursünde vergegenwärtigt, über die man im Roman erst am Ende des Romans durch die Geschichte des Henkers von Lille erfährt:

Miladys Verführung eines jungen Mönchs hatte zunächst die Konsequenz, dass dieser durch seinen Bruder, den Henker von Lille, mit dem Brandzeichen der Lilie bestraft wurde. Der Henker verfolgte danach die junge Frau und brandmarkte sie ebenfalls, doch nachdem der Henker wieder an seinen Heimatort zurückkehrte, war sein Bruder geflohen, und man sperrte an seiner Statt den Henker selbst ins Gefängnis – für zehn Jahre. Als dessen Bruder viel zu spät davon erfuhr, welche Folgen seine Flucht hatte, und angesichts der Tatsache, dass Milady auch ihm nicht treu geblieben war, erhängte er sich. Selbstmord galt zu dieser Zeit und noch lange darüber hinaus als die ehrloseste Art zu sterben, und das Begräbnis auf einem Friedhof blieb dem Selbstmörder selbstredend verweigert. Diese Tragödie wäre ohne Milady nie passiert – und auch danach hat die Frau nur Unglück über die Welt gebracht. So ist es nur konsequent, dass Milady ausgelöscht werden musste, um die Ordnung wiederherzustellen. Dass weniger harte Gesetze den Lauf der Dinge vielleicht abgemildert hätten, ist in dieser Denkweise nicht vorgesehen.

Und was können die Illustrierten Klassiker?

Von den amerikanischen Illustrierten Klassikern ist nur die von George Evans gestaltete Version von 1956 ins Deutsche übersetzt worden. Die Zeichnungen sind gar nicht so viel anders als die Jahrzehnte später entstandene Version von Roy Thomas und Hugo Petrus. Was im Fall der Marvel-Version von 2008 jedoch nur noch als künstlerische Stagnation gesehen werden kann, war 1956 durchaus eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber der ersten Classics-Illustrated– Version durch Malcolm Kildale 1941. Während Kildale sich mit einem einen sehr einfachem Strich begnügte, gelingen George Evans ebenso detaillierte wie effektvolle Bildkompositionen, die auch in der Farbgebung überzeugen. Interessant bei der George-Evans-Version ist, dass er trotz der Kürze von 47 Seiten erstaunlich viel Raum für einen langen Handlungsstrang findet, der von den Erlebnissen Lady Winters in England handelt und der in der Ermordung von Lord Buckingham seinen Höhepunkt findet. Roy Thomas hat diesen spannenden Erzählstrang brüsk in eine einzige kleine Erzählbox verwiesen, weil darin keine Musketiere vorkommen.

Auch hat George Evans 1956 bereits die moralischen Untiefen der Vorlage gekonnt herausgearbeitet: Als Athos erkennt, dass Lady Winter eine Heiratsschwindlerin ist, fesselt er sie und hängt sie an einem Baum auf. Helmut Nickel hat es in seiner Version nicht gewagt, diese Episode getreu der Vorlage nachzuerzählen, den Vogel schießt aber Malcolm Kildales Version von 1941 ab: Auch bei Kildale erzählt Athos seinem Freund, wie er auf der Schulter seiner Ehefrau das Brandmal der Lilie sah, daraufhin d’Artagnan: „Horror! What do you tell me?“, woraufhin Athos erwidert, „Truth! My angel was a demon! That has cured me of women. Drink!“ Der Horror von Athos Mordhandlung wird umgedeutet auf den Horror, dass die Frau ein Brandmal hatte. Eine schamvolle Interpratation, die den zwielichtigen Musketier reinwäscht und alles Böse auf die junge Frau proji*ziert.

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Welch Horror. Sie hatte das Brandmal der Lilie. Aber sollte nicht der Horror sein, dass Athos die Dame danach an einen Baum hängt? (Classics Illustrated 1, 1941, ©Gilberton).

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Athos‘ Beichte in der zweiten Version. (Illustrierte Klassiker. ©Berkeley)

Über Kildales schlichten Zeichenstil hingegen will ich mir kein finales Urteil erlauben. Gerade in modernen Zeiten, in denen viele Künstler ihre Comics nebenberuflich gestalten, hat ein effizienter Stil, der mit wenigen Linien auskommt, künstlerisch nach wie vor Relevanz. Auch sind die ungelenk wirkenden, teils schiefen Perspektiven oft nur einen kleinen Schritt entfernt von gelungener Abstraktion und Verfremdung. Der Stil ist es wert, sich damit auseinanderzusetzen. Eine spannende Nacherzählung hat Kildales Illustrierter Klassiker indes nicht zu bieten.

Nacherzählungen, Neuerfindungen und Dekonstruktion

Während meiner Lektüre dieser vielen Versionen der Musketiere sind mir drei verschiedene Grundmuster aufgefallen, nach denen sich diese Comics einordnen lassen.

1. Nacherzählungen:
Sowohl die beiden Versionen der Illustrierten Klassiker, die Version von Roy Thomas und Hugo Petrus als auch die französische Version von Morvan, Dufranne und Rubén, die in Amerika ebenfalls mit dem Classics-Illustrated-Imprint vermarktet wurde, erzählen ohne Abschweifungen Dumas‘ Roman nach, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Die akkurateste, lückenloseste und spannendste Version ist dabei zweifellos die französische. Rubéns verspielter Stil verleiht dem derb-düsteren Geschehen bei aller erzählerischer Konsequenz einen besonderen Charme.

2. Neuerfindungen:
Helmut Nickel hat die Erzählung um die Musketiere in seiner Version weniger nacherzählt als vielmehr neu erfunden. Er hat einzelne Elemente herausgegriffen und in die Form eines rasanten Serials gegossen. Obwohl Nickel ab der Hälfte bisweilen den Plot aus den Augen verliert, findet er zuletzt zu einem starken Finale zurück.

Patrick Cothias hat die Musketiere ebenfalls für sich neu erfunden und einen stimmigen d’Artagnan in seine Erzählung um des Königs Narr eingebracht, der wie bei Dumas ein etwas zwielichtiger Sympathieträger ist, dessen Innerstes unergründlich ist – falls dort überhaupt etwas Nennenswertes zu finden sein sollte.

Auch Jean-Michel Charlier hat die Musketiere auf seine Art und Weise neu erfunden. Seine soldatischen Helden sind nichts anderes als die Wiedergänger der Musketiere und treten häufig sogar in Dreierkonstellationen auf: Buck Danny hat Sonny und Tumbler, Leutnant Blueberry hat Red Neck und Jimmy McClure, der Rote Korsar hat seinen Sohn Rick, Baba und Dreifuß. Die Frauenfiguren in den Comics von Charlier tragen häufig Charakterzüge von Lady Winter, die Geschichten spielen meistens in Krisengebieten oder im militärischen Milieu.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (25)

Einer für alle, alle für einen. Buck Danny ist ein moderner Musketier (Buck Danny Gesamtausgabe 5 ©Salleck).

3. Dekonstruktion:
Nicolas Juncker hat nur oberflächlich eine Nacherzählung gestaltet. Tatsächlich blickt er von der ersten Szene an hinter die Rituale der Musketiere. Durch die subjektive Sicht d’Artagnans sehen wir die Fassade der Rituale, befinden uns gleichzeitig aber auch hinter der Fassade. Einerseits mag dies eine moderne Perspektive sein, andererseits ist es durchaus legitim, Figuren der Vergangenheit modernes Denken zuzugestehen. Sie haben dieses nur noch nicht laut augesprochen oder ausgelebt. Gleichzeitig muss man ja auch anerkennen, dass auch in unserer Zeit längst überkommene Denkweisen und magisches Denken angetroffen werden können. Ebenso war bereits Kildales Illustrierter Klassiker von 1941 ein deutlicher Rückschritt gegenüber der sehr schonungslosen, nicht aber unreflektierten Romanvorlage von 1845, in der die Hinrichtung der armen Kirchendiebin mit der Lilie zwar stattfindet, aber eben auch als abscheulich dargestellt wird. Wie bieder und letztlich misogyn ist dagegen der Illustrierte Klassiker, der knapp 100 Jahre später daraus hervorgegangen ist. Der zeitliche Fortschritt bringt nicht zwangsläufig eine Verbesserung im Denken und Handeln der Menschen mit sich. Auch das Gegenteil kann der Fall sein.

Auch Mancinis p*rnografische Version kann durchaus als Dekonstruktion verstanden werden: Wie ein Gemälde oder eine Karikatur bietet Mancinis Bild der nackten Milady unter der Übermacht der männlichen Herrschaft weniger eine Erzählung als eine ebenso legitime wie zutreffende Zuspitzung.

Anmerkungen:

  • Auf der Webseite der Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) kann man einen aufschlussreichen und unterhaltsamen Aufsatz mit dem Titel „Von Scherzen und Duellen“ von Ulrike Ludwig über Duelle und Ehrenkonflikte herunterladen (Suchbegriff: Duell).
  • Eine schon etwas ältere Fanseite zu Alexandre Dumas‘ Werk, die immer noch gepflegt wird und auch ein umfangreiches Forum hat, nennt sich Artagnan.
  • Zum Begriff der „Unehrlichkeit“ verweise ich auf den Wikipedia-Artikel „Unehrliche Berufe“. Der Versuch der späteren Lady Winter, ihre Brandmarkung zu verheimlichen und die Ehe mit einem Adeligen einzugehen, war nach damaligen Maßstäben ein schweres Verbrechen und hätte leicht den Ehrverlust für Athos zur Folge haben können.

Literatur:

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (26) Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (27)

Alexandre Dumas: Die Drei Musketiere. Bertelsmann-Ausgabe aus den 1960ern mit Nachwort. Keine bibliografischen Angaben.

Helmut Nickel: Die Drei Musketiere 1-22. Reprintausgabe in s/w. Norbert Dargatz 1991-94.

Nicolas Juncker: Die Drei Musketiere – Aufzeichnungen des jungen D’Artagnan. Carlsen 2011.

Roy Thomas, Hugo Petrus: The Three Musketeers 1-6. USA. Marvel Comics 2008.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (28) Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (29)

Malcolm Kildale: Classics Illustrated 1: The Three Musketeers. USA, Gilberton Company (Reprint der 1941er-Version).

George Evans: Illustrierte Klassiker: Die Drei Musketiere. Reprintausgabe des Norbert Hethke-Verlags 1992.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (30) Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (31)

Morvan, Dufranne, Rubén: Classics Illustrated: The Three Musketeers. USA, Papercutz 2011 (amerikanische Lizenzausgabe des Delcourt-Vierteilers).

Mancini: Die Drei Musketiere. International Presse Magazine , keine Jahresangabe.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (32) Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (33)

Parick Cothias, Brice Goepfert: Des Königs Narr 1-9. Kult Editionen 1995-2004.

Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (34) Die Drei Musketiere, Lady Winter und der Henker von Lille – Was Comicadaptionen können (35)

Außerdem die Gesamtausgaben von Buck Danny (Salleck-Verlag) und Leutnant Blueberry (Egmont) sowie I Tre Moschettieri, ein italienisches Taschenbüchlein des Geis-Verlags von 1974. Für den ungelenken p*rnografischen Inhalt fand ich keine Verwendung, aber das Titelbild fand ich so schön, dass ich es als Aufmacher benutzte.

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